DIE BAUMSKULPTUR

 

 

Im Frühjahr traf ich die Linde, noch blattlos,

von Menschen nach deren Ideen beschnitten,

parallel zur Hauswand zum flachen Quader geformt,

mit dem hohen Stamm und den nach oben gebogenen,

ineinander verflochtenen Ästen

beeindruckend gestaltet

wie ein modernes Kunstwerk.

 

Ich spürte eine Traurigkeit in ihr. So fragte ich sie:

Kann ein lebendiges Wesen es lieben,

eine Skulptur zu sein?

 

Da fühlte ich mich vom Bewusstsein der Linde

hineingezogen in ihren Stamm,

es ging nach unten, tiefer und tiefer,

durch flirrendes Dunkel zu einem schwachen

blauen Licht,

in dem ein kleines, koboldhaftes Wesen sichtbar war.

 

Ich kümmere mich um die Wurzel, sagte es,

ich putze und glätte.

Ich suche in ihr meine Form.

Tag und Nacht bin ich beschäftigt,

nach ihr zu forschen.

Sternförmig mag sie sein,

ausgehend vom Kreis meines Bewusstseins

in verschiedene Richtungen zielend.

Etwas ging verloren, bevor es sichtbar war,

bevor es in die Verwirklichung trat.

In der Wurzel suche ich die Krone.

In der Enge suche ich die Weite.

Im Dunkel suche ich das Licht.

 

Die unermüdliche Arbeit des Koboldwesens rührte mich.

Dann forschte ich außen vor der Linde.

Ich nahm unsichtbare Äste wahr,

die in alle Richtungen sich ineinander schlingend wuchsen,

als Matrix, als Energieformen,

in die hinein die Äste sich entfalten könnten,

wenn man sie ließe:

Groß und weit und voller leichter Bewegungen,

sich wiegend, tanzend, dem Himmel und dem Horizont entgegenstrebend

könnten sie sein.

 

Hoch über der Linde sah ich die helle Deva schweben.

Ich beschütze meinen Baum, sagte sie.

Ich umarme ihn, ich tröste ihn.

 

Ich stehe fast versteinert, sagte die Linde,

in einer mir entfremdeten Form,

mit der tiefen Sehnsucht nach meiner wahren Gestalt,

meiner Größe, meinem Überfluss.

 

Doch eben das zu zeigen, als Zeichen, als Symbol,

ist meine Aufgabe:

So erstarrt und versteinert werdet ihr sein,

wenn ihr eure Form nicht findet,

das, was in euch ist,

das, was nach Entwicklung und Ausdruck strebt,

das, was werden will, was es sein sollte.

Die Lebensfreude geht verloren, die Kreativität.

Der Kobold tief in meinem Innern versucht ein Puzzle

aus Erinnerungsstücken,

versucht, ein Gegengewicht zu erschaffen

zur gemeinten, erahnten, nicht geborenen Krone.

Er versucht und probiert aus und lässt nicht nach.

 

So bin ich Symbol für all eure Beschneidungen,

die ihr euch selbst antut,

für alles Erstarrte in euch,

für alles Nicht-leben-können.

 

Ließet ihr mich los, ließet ihr mich sein,

wäre ich Sinnbild für euer individuelles Wachsen,

für die Entfaltung eurer Potenziale,

für das Erwachen eures Lichts.

Vergesst nicht, wir sind alle eins.

Was ihr mir antut, tut ihr euch selber an.

Ich bin euer Spiegelbild.

 

Ich möchte losgelassen werden aus diesen

künstlichen Grenzen,

wachsend fließen können in meine ureigene Form.

Ich will euch beschützen mit meiner Kraft,

gute Energien anzuziehen und zu halten.

Ich will euch Schatten geben

oder Licht zwischen den Zweigen.

 

Wieder ging das Bewusstsein des Baumes tief hinunter,

dorthin, wo der Kobold die Form sucht,

dorthin, wo Stille ist

und das Aufbrechen von Vergessen.

 

Inmitten des blauen Lichts

schimmerte etwas von dem goldenen Wesen auf,

das die Linde in Wahrheit ist.

 

                                                         ©  Ursula Sewing