ICH BIN NICHT TOT, SAGTE DIE WEIDE   (5)

 

 

Ich bin nicht tot, sagte die Weide.

Ich lebe und bin viel mehr im Licht als zuvor.

 

Mein Leben an dem Ort, an dem du lebst,

war ein glückliches.

Meine Aufgabe,

negative Energien in positive umzuwandeln,

war leicht für mich und gab mir ein gutes Gefühl,

weil ich etwas für die Erde hier, die Menschen,

die Tiere und Pflanzen an diesem Ort tun konnte.

Es muss nicht immer die ganz große Aufgabe sein,

die Ruhm einbringt und Anerkennung,

sondern die, die zufrieden macht.

Es kann die ganz kleine Aufgabe sein

für einen kleinen Ausschnitt der Welt.

 

Dann kam der Fall durch die Säge.

In mir war ein staunendes, ungläubiges Gefühl.

Und doch gab ich mich dem Geschehen hin,

dem Geschehen, das mein Schicksal

an diesem Ort beendete.

Aber nur an diesem Ort.

 

Als ich fiel, fiel etwas von mir ab.

Etwas, das schwer war und mich

an diesen Punkt der Erde gefesselt hatte,

etwas, das in Ordnung und schön war,

aber mich dennoch begrenzte.

Nun bin ich frei.

Es war ein anfängliches Gefühl von Heimatlosigkeit,

von Entwurzelung in zweifacher Bedeutung,

aber danach, - nach dem Abschied von meiner

gewohnten Form, meinem gewohnten Platz,

den Tieren und Pflanzen, die mit mir lebten,

dem Abschied von bestimmten Facetten meines Seins, -

fand ich die Freiheit, die Unabhängigkeit,

fand ich mich selbst in allem, was ich sah

oder berührte.

 

Wo vorher Aufgabe war, ist jetzt reine Freude.

Wo vorher Geduld und Aushalten war,

ist jetzt Leichtigkeit und Freiheit.

 

Wirf nun auch du alles Alte ab.

Es war gut, so wie es war,

doch jetzt suche den neuen Weg.

Es wird Zeit.

Lass dir den Wind ins Gesicht wehen.

Zeichne den labyrinthenen Weg,

und in der Mitte fühle dich selbst.

 

Das Licht der Weide erschien strahlender und kraftvoller

als je zuvor.

Es war, als schwebte sie, da ohne Wurzeln,

über der Erde durch die Landschaft

zu anderen Bäumen hin,

zu tanzenden Devas und Elfen hin,

und manchmal hin zu mir.

 

Die Blattspitzen leuchteten hell auf.

Wie zum Gruße.

Wie als Zeichen.

Als Zeichen, ihr zu folgen

in die Freiheit und die Verbundenheit

auf der Basis von Freiwilligkeit,

Begeisterung und Liebe.

 

Sie entfernte sich von mir.

Und dennoch schien sie mich zu locken

mit ihren Blättern aus Licht

und der goldenen Corona um sie herum.

Viel Glück, schien sie zu rufen, und ich hörte ihr Lachen,

ein hell klingendes,

was hoch hinauf stieg über die Bäume hinweg.

Komm zurück, rief ich.

Aber sie glitt weiter, wurzellos und leicht, dicht über der Erde,

um im Vorüberfliegen andere Lichtwesen zu grüßen.

 

Danke, rief ich ihr nach.

Anmutig neigte sie die Krone

zum Zeichen, dass sie mich gehört hatte,

und löste sich auf in winzige Lichtfunken,

die langsam verblassend entschwanden.

 

                                                     © Ursula Sewing

 


Foto: Ursula Sewing