ICH TRAF DEN ENGEL DES TODES

 

 

Ich traf den Engel des Todes,

sehr dunkel und groß sah er aus.

Er sprach:

 

Auch der Tod ist etwas Großes.

Ich bin für die Türe zuständig, durch die ihr geht,

bevor ihr in der anderen Welt ankommt.

Ich mache mit meiner Energie auf die Größe dieses Übergangs aufmerksam.

Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten.

Aber es gibt Gründe dafür,

sich vorzubereiten.

Ich begleite ein Stück auf dem Weg nach Hause,

bevor euch die hellen Engel abholen

und ins Licht geleiten.

 

Was ist es, was da passiert,

und worauf muss man sich vorbereiten?

fragte ich ihn.

 

Ich bin der Abschiedsschmerz,

das, was euch trennt vom Alten, Vertrauten.

Ich bin die Angst vor dem Hindurchgehen.

Ich bin auch die Stimme, die euch im Vergangenen hält,

bis ihr verstanden habt und loslassen könnt.

Ich bin der, der sagt:

Hast du alles getan, was du tun wolltest?

Bist du für den Übergang bereit?

Bist du dort angekommen, wo du das Neue betreten kannst?

 

Lange kann es dauern, bis ein Mensch an diesem Punkt angekommen ist.

Ich bin in seiner Nähe, ich bewache ihn

und bin bereit,

ihm immer wieder die Fragen zu stellen, die er braucht,

um sich für den Übergang entscheiden zu können.

 

An diesem Punkt steht der, an den du denkst,

der nicht gehen kann, obwohl er sich schon

vor langer Zeit verabschiedet hat.

Er steht direkt vor der Tür, aber er kann nicht hindurch.

Er gibt sich immer wieder selbst die Antwort, dass nicht alles erledigt sei,

dass nicht alles gelöst sei,

dass er noch nicht in Liebe loslassen könne.

 

Was hält ihn fest?

 

Das Nicht-Lieben.

Er hat immer wieder geahnt, was Lieben heißt,

aber er hat es nie vermocht, sein Herz ganz zu öffnen

und vorurteilslos zu lieben.

Davon weiß er - auf einer unbewussten Ebene,

und er sehnt sich danach, dass es ihm gelingen möge.

Manchmal erscheint ein Funke von dieser Liebe,

diesem Ziel,

vor seinen Augen, und er ist bereit.

Doch geht er wieder einen Schritt zurück.

 

Meine Anwesenheit macht es ihm nicht leicht.

Doch sind meine Fragen eine Notwendigkeit,

damit er eines Tages das Gefühl haben kann,

sein Leben erfüllt zu haben.

 

Viele Erinnerungen schweben heran, berühren ihn,

gehen wieder.

Erinnerungen an Liebe, und daran, Liebe nicht ausgedrückt zu haben.

Gegenüber seiner Frau, gegenüber der Mutter,

gegenüber dem Sohn und der Tochter,

gegenüber den früheren Freundinnen und Freunden.

 

Er kann das Versäumte nicht nachholen.

Aber es ist notwendig, dass sich ein Gefühl,

ein Bewusstsein

von Liebe bildet.

Wenn so ein Augenblick ganz stark und ernst wird,

wird er gehen können.

 

Durch diese letzte Tür muss tatsächlich

jeder selbst hindurchgehen

und allein.

Bis auf mich, der ihn begleitet.

Hab keine Angst, es geht nicht darum,

dass ihm Böses geschieht

oder Erschöpfendes.

Dies alles spielt sich auf einer Ebene ab, die nicht

mit Schmerzen verbunden ist,

sondern mit Erkenntnissen,

Erkenntnisse auf einer feinstofflichen Ebene,

und doch sind es seine,

die er mitnehmen wird

und die er beim Wiederkommen

wieder mitbringen wird.

Diese sind wichtig für seine geistig-seelische Entwicklung.

Sie werden ihn ins nächste Leben tragen.

 

Meine Mission ist, ihn vorzubereiten,

und ich erfülle sie gerne.

Weiß ich doch, dass ich ihn durch eine Türe

führen werde,

die ihm Licht und Liebe eröffnet.

Sobald er den Punkt erreicht hat,

wo das Gefühl von vorurteilsloser,

nicht wertender Liebe

in ihm aufsteigt,

wird er sich auf den Weg machen.

Dann kann er es ganz alleine.

Und es wird ohne Schmerzen sein.

Irgendwann während der Gedankenschleier,

die ihn berühren,

wird dieser ganz besondere Punkt kommen,

und er wird durch die Tür gehen, -

voller Zufriedenheit, voller Erleichterung,

voller Liebe.

Dann wird er wissen,

dass er seine Lebensaufgabe erfüllt haben wird.

 

Hinter der Tür werde ich ihn mit einem Lächeln,

das ihn stolz und froh machen wird,

den hellen Engeln, denen, die ins Licht führen,

übergeben.

Ebenso seiner Mutter, die ihn sanft empfangen wird.

Und es wird ein Fest sein, dass ausgerechnet seine Mutter ihn liebevoll abholen

und begleiten wird,

die er tief in seinem Herzen geliebt hat,

aber der er immer verübelt hat,

ihn nicht in der zärtlichen, behütenden Art

geliebt zu haben,

die er sich so sehr wünschte als Kind.

Nun wird sie ihm dies in einem kurzen Augenblick

des Willkommens geben,

und sein Herz wird sich öffnen.

Er wird voller Dankbarkeit sein, endlich das zu erhalten,

wonach er sich so lange sehnte.

 

Du siehst, alles hat seinen Sinn und seine Zeit.

 

Ich bedankte mich bei dem Engel des Todes.

Er dankte auch und sagte:

 

Aus immer sich erweiternder Liebe grüße ich dich.

 

 

                                             © Ursula Sewing

 

 

 

Foto: Ursula Sewing