GRENZENLOS
Ich kam vom großen hellen Feld her.
Tanzend unter kreisenden
und über den Himmel wandernden
Sternen und Planeten,
erreichte ich den kleinen Hügel,
an dem Sanara auf mich wartete.
Komm, setz dich zu mir ins Gras,
sagte er. Ich will versuchen,
dir eine Antwort zu geben auf das,
was dich beschäftigt.
Was bin ich?
hast du in vielen Leben gefragt,
und gemeint hast du
deine Herkunft, dein Geschlecht,
deine Stellung in der Gesellschaft.
In den meisten deiner Leben hast du
nach dieser Frage gelebt, wenn auch immer
die eigentliche Frage hindurchschimmerte:
Wer bin ich?
Am nächsten bist du der Antwort gekommen,
wenn du alles, was an Tradition, Konvention,
Erziehung und Moralgesetzen dich prägte,
außer Acht gelassen, abgestreift hast,
um zu sehen:
Wer bin ich eigentlich ohne das alles?
Was bleibt übrig? Was will ich -
ohne die Ansprüche und Erwartungen
der anderen, der Gesellschaft,
in der du gerade lebtest.
Und immer kamst du zu einer Schicht darunter,
als legtest du einen Mantel nach dem anderen ab,
und darunter warst du immer noch nicht du selbst,
sondern dort fandest du die nächsten Schichten
der Konvention, der Erziehung,
der erlernten Vorstellungen,
die dein wahres Selbst verdeckten.
Wer bin ich? fragtest du dich immerzu.
Ab und zu blicktest du kurz,
für den Bruchteil eines Augenblicks,
hinter diese ganzen Kulissen deiner Person
und erhaschtest eine winzig kleine Ahnung
von dem, der du wirklich bist.
Und du sahst etwas sehr Durchscheinendes,
nicht Fassbares, nicht Begrenztes,
nicht Festgelegtes,
etwas Unendliches,
Grenzenloses
wie das Meer.
Dein wahres Wesen ist
in seiner Unbegrenztheit
von unvorstellbarer Größe,
und du selbst kannst dieses Wesen
formen nach deinem Bild
und ebenso wieder ent-formen
und ihm seine unendliche,
grenzenlose Gestalt
zurückgeben.
Du hast unendliche Möglichkeiten,
dein Leben zu gestalten, zu handeln,
Visionen zu erdenken
und in die Wirklichkeit zu bringen.
Du kannst deine Realität und dich selbst
immer wieder neu erschaffen.
Und nicht nur bewusst erschaffst du, -
sondern wo du gehst und stehst,
entsteht neue Wirklichkeit,
einfach durch dein Hingehen oder Weggehen,
dein Dranvorbeigehen oder Hindurchgehen,
durch dein Sein an sich.
Du erschaffst unermüdlich
und grenzenlos -
wie der Stein, der ins Wasser geworfen wurde,
die konzentrischen Kreise erschafft,
die sich immer weiter ausbreiten
und dadurch ihre Umgebung verändern.
Nur, dass dein Erschaffen weiter geht,
nicht aufhört, Wirkung hat,
von der wiederum neue Wirkung ausgeht,
von der wieder neue Wirkung ausgeht,
und so weiter und so fort.
Und das passiert irgendwie absichtslos
und doch mit Bestimmtheit.
Nichts steht still, was von diesen Wellen,
die von dir ausgehen, berührt wird,
sogar, wenn dein Bewusstsein
nichts davon weiß.
Wer bin ich?
Wie du siehst, ist dies keine Frage,
die einfach zu beantworten wäre.
Es ist eine Frage,
die unendliche Vorstellungen freisetzt,
weil du genau das bist:
die Unendlichkeit, die Grenzenlosigkeit,
das grenzenlos und ewig Erschaffende.
Du weitest dich in Wellen aus,
die größer und größer werden:
Es gibt keine Grenzen.
Mir wurde ganz schwindelig
von all den Worten.
Ich bekam eine Art unvorstellbarer
Vorstellung von dem, der ich bin, -
ein Gefühl von unendlicher Weite,
die sich in mir auftut, wenn ich einmal
alle begrenzenden Vorstellungen
versuchsweise
loslasse.
Ich bedankte mich,
und Sanara lächelte.
© Ursula Sewing