DIE BUCHE, DIE ZUR ROSE WURDE
Ich bat den Buchenstamm, dessen Krone abgesägt worden war, um ein Gespräch,
und er war bereit dazu.
Ich fragte nach seiner Vergangenheit als Baum.
Mein Leben hier war wunderbar.
Schön, inmitten der anderen Bäume und Pflanzen zu wachsen,
wohl umsorgt von den Menschen hier.
Als ich meine weite Baumkrone noch besaß,
konnte ich mich nach oben und außen ausbreiten.
Das war Freiheit.
Ich war allem ganz nahe:
dem Wind, dem Regen, der Sonnenwärme.
Ich erinnere mich an das leicht kitzelnde Wachsen
der Blätter an meinen Zweigen,
wenn sie sich auffalteten,
bis sie mir schließlich mit ihren ganzen Fühlfähigkeiten
zur Verfügung standen.
Es war immer ein mal leiser, mal lauter werdender
Tanz in den Blättern,
in dem ich mich wiegte.
Irgendwann wurde ich krank in meiner Mitte.
Ein Gefühl, dass ich mich nicht mehr lange zusammenhalten könnte.
So war es richtig, dass die Menschen
meine Krone absägten, -
wenn da auch ein Bedauern in mir war.
Ein Gefühl des Verlustes, -
bis ich eine neue Harmonie und Balance in mir
gefunden hatte.
Noch ist meine Aura vorhanden
und in ihr die ganze Schönheit und Freiheit der Krone,
wenn auch ihre sinnlichen Meldungen fehlen.
Jetzt ist Stille in mir, Erinnerung, Dunkel.
Leben als Stille, als Ruhen, als höchste Gelassenheit,
als Frieden.
Einfach sein. Das ist eine lebenswerte Erfahrung.
Ich lausche den Säften, die immer noch leise
in mir auf- und absteigen.
Es ist wie ein feiner, beruhigender Gesang,
wie ein gesummtes Lied, das ich liebe.
Ein Künstler will sich in dich hineinfühlen
und eine Form aus dir herausarbeiten,
die er in dir wahrnimmt, sagte ich.
Wie wird das für dich sein?
Alles, was geschieht, führt zu etwas Neuem,
sagte die Buche,
zu einer neuen Qualität, zu einem neuen Sein.
Das ist gut.
Dann beginnt der Künstler mit seiner Arbeit.
Er fängt an, in meine bisherige Form einzugreifen,
sie zu verändern.
Ich habe ein etwas banges Gefühl,
als die schützende Rinde aufgebrochen wird.
Dennoch stehe ich zur Verfügung,
überlasse mich seinen Träumen,
öffne mich seinen Eingebungen.
Ich bin gespannt darauf, was er aus mir
herausholen wird.
Ich spüre, dass er mit Konzentration
und Hingabe an mir arbeitet.
Ich vertraue ihm.
Ich bin bereit für den Wandel.
Wie einen Mantel zieht der Künstler der Buche
die alte Form aus,
unter dem er die wahre Gestalt
und das wahre Wesen des Baumes
erahnt.
Und diese lässt es zu.
Der Künstler entwickelt die neue Form aus der alten,
er wickelt sie im Grunde aus, -
als sei sie längst im Baum gewesen.
An manchen Stellen bleibt er wenig
unter der Oberfläche,
an anderen greift er tiefer und tiefer ein,
als gelte es, dort immer noch Geheimnisse,
Formen, die sich selbst anbieten,
zu entdecken
und zu neuem Leben zu erlösen.
Langsam entsteht eine Rose,
die aus dem Innern des Baumes hervortritt,
als zeigte sie dessen wahres Gesicht.
Die anfangs vorsichtigen Bewegungen der Säge
werden zielgerichteter und tiefgreifender,
später aber sanfter und fast zärtlich,
je mehr die gefundene Gestalt erkennbar wird.
Der Künstler formt den Stiel, die Blätter, die Blüten
mit immer mehr Behutsamkeit.
Schließlich sind die Bewegungen der Säge
wie Streicheln.
Als nähme der Künstler ein Gesicht
vorsichtig in seine Hände.
Der Baum sagt:
Ich verzichte auf Schutz und Geschlossenheit
zugunsten einer Seelenform, die meine ist.
Auch andere Formen, die in mir verwahrt sind,
könnten sichtbar gemacht werden.
Aber so ist es gut.
Die Rose bedeutet Entfaltung, Schönheit,
Harmonie und Liebe.
Das alles ist auch in mir.
Ich fühle Liebe für alles, was mich umgibt, -
für die anderen Bäume hier, die Vögel, die kleinen Tiere,
den Wind, die Sonne, den Regen,
die Menschen, die sich um mich kümmerten.
Ich gebe also preis, was längst in mir ist.
Und ich bin dankbar dafür, dies sichtbar
verkörpern zu dürfen.
Wenn ich demnächst als Baum ganz gestorben
sein werde,
weiß ich, dass ich auf der Erde weiter existiere
in einer neuen Gestalt.
© Ursula Sewing
(Der Künstler Peter Bolle schnitt aus einem Buchenstamm eine Rose.)