GESPRÄCHE ZUR NACHT
GESPRÄCHE ZUR NACHT I
Er, mit dem ich das Gespräch suchte zur Nacht,
lag schon lange kraftlos
mit geschlossenen Augen.
Der Engel des Todes stand an seiner Seite.
Sehr groß und dunkel sah er aus.
Ich bin für die Tür zuständig, sagte er,
durch die ihr geht, bevor ihr in der anderen Welt ankommt.
Ich mache auf die Größe dieses Übergangs aufmerksam.
Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten.
Aber es gibt Gründe dafür, sich vorzubereiten.
Ich begleite ein Stück auf dem Weg nach Hause,
bevor ich euch den hellen Engeln übergebe,
die euch ins Licht geleiten.
Ich bin der Abschiedsschmerz über das,
was euch trennt vom Alten, Vertrauten.
Ich bin die Angst vor dem Hindurchgehen.
Ich bin die Stimme, die euch im Vergangenen hält,
bis ihr verstanden habt.
Ich bin der, der sagt: Hast du alles getan,
was du tun wolltest?
Bist du dort angekommen, wo du das Neue
betreten kannst,
wo es Sinn macht, Neues zu beginnen?
Es kann lange dauern,
bis jemand diesen Punkt erreicht hat.
Ich bin in seiner Nähe, ich bewache ihn
und bin bereit, ihm immer wieder die Fragen zu stellen,
die er braucht, um sich für den Übergang
entscheiden zu können.
So kann es sein, dass jemand direkt vor der Türe steht
und kann doch nicht hindurch gehen.
Er gibt sich immer wieder selbst die Antwort,
dass nicht alles beendet ist, dass nicht alles gelöst ist,
dass er noch nicht in Liebe loslassen kann.
Es ist immer das Nicht-Lieben, nicht das Lieben,
was einen Menschen festhält in diesem Leben.
Der Mensch hat wieder und wieder erfahren,
was Liebe heißt, und wo sie fehlte.
Aber er hat es nicht vermocht, sein Herz ganz zu öffnen
und vorurteilslos zu lieben.
Er weiß es, - auf einer unbewussten Ebene -,
und er sehnt sich danach, dass es ihm gelingen möge.
© Ursula Sewing
Fortsetzung in: Gespräche zur Nacht II